Es ist, als wollte sich die Geschichte wiederholen: "Wir werden unsere
Freiheit bekommen - egal um welchen Preis", steht auf den Flugblättern, die in
diesen Tagen unter den Scheibenwischern geparkter Autos im Kosovo klemmen.
Hinter dem Aufruf steht eine Partei, die sich "Nationale Bewegung für die
Befreiung des Kosovo" nennt. Ihr Ziel ist die Vereinigung der Unruheprovinz mit
Albanien, ihr Feind die Uno-Verwaltung Unmik. "Dafür", sagt der
Parteivorsitzende Fatmir Humolli, "werden wir notfalls auch einen neuen Krieg
beginnen."
Humolli hetzt, Unmik und die Kfor-Friedenstruppe seien Besatzungsmächte, nun
müsse gehandelt werden. Der 40-Jährige, der schon 1981 die Albaner-Aufstände mit
organisierte und deswegen drei Jahre im Gefängnis saß, ist sicher: Über Nacht
könnten die 10 000 Aktivisten seiner Organisation ein größeres Heer an Kämpfern
zusammentrommeln als einst die legendäre UÇK, der er natürlich auch gedient hat.
Sind dies nur Phantasien eines nationalistischen Außenseiters, dem die
albanischen Medien des Kosovo in diesen Tagen ungewöhnlich viel Publizität
einräumen?
Wohl nicht. Überall in der Krisenprovinz haben Kriegstreiber derzeit leichtes
Spiel. "Bei den nächsten Kämpfen im Kosovo werde ich sterben", prophezeit stolz
der UÇK-Veteran Ramush. Der 45-Jährige besitzt keinen Pass, sein 16-jähriger
Sohn ist in keinem Geburtenregister erfasst. "Alles, was ich meiner Familie
hinterlassen kann", sagt Ramush, "ist die Ehre, für das Vaterland zu sterben."
Ramush war auch bei den jüngsten gewalttätigen Ausschreitungen gegen die ser-
bische Bevölkerungsminderheit an vorders-
ter Front dabei. Und er räumt ein: Natürlich seien die Unruhen nicht "spontan"
gewesen. "Kein Albaner würde es wagen, solche Aktionen ohne höheren
Einsatzbefehl zu beginnen", sagt er fast amüsiert.
Und auch in Brüssel sind sich EU-Politiker inzwischen sicher: Der jüngste
Aufstand der Kosovo-Albaner, bei dem 19 Menschen getötet, mehr als 900 verletzt,
800 Häuser niedergebrannt sowie 29 serbisch-orthodoxe Kirchen und Klöster
zerstört wurden, war eine geplante Provokation. So ist etwa EU-Außenkommissar
Chris Patten überzeugt davon, dass prominente albanische Politiker der
Krisenprovinz die Angriffe auf Serben, Roma und Kfor-Truppen angezettelt haben.
Der Arzt Sali Bytyqi aus Musutiste hat ebenfalls kein Mitleid mit den serbischen
Opfern der Gewaltexplosion. Wie er fühlen sich viele Albaner um die Früchte des
Befreiungskampfes betrogen. Auch er wäre bereit, für die Unabhängigkeit des
Kosovo noch einmal zu den Waffen zu greifen, falls die Unmik ihre hinhaltende
Politik nicht grundlegend ändert. Schließlich, erklärt Bytyqi, sei die Uno hier,
um den Albanern zu dienen und nicht etwa umgekehrt.
Auch fünf Jahre nach dem Ende des Nato-Bombardements, das die Vertreibung der
Albaner durch serbische Soldaten stoppte, sitzt der Hass zwischen den
Volksgruppen tief. Die Brandschatzungen und Vertreibungen durch die Truppen des
damaligen Belgrader Diktators Slobodan Milosevic haben die Albaner noch lange
nicht vergessen. Die Angst, eines Tages womöglich erneut unter der Fuchtel
Belgrads leben zu müssen, ruft bei ihnen kollektive Panik hervor - und wachsende
Gewaltbereitschaft.
Der Westen habe sich im Kosovo eine multi-ethnische Gemeinschaft zum Ziel
gesetzt, die dort letztlich keiner wolle - warnte jüngst der OSZE-Beauftragte
Marek Nowicki vor dem Europarat. Außer in den Köpfen westlicher Politiker habe
es niemals eine realistische Chance für eine Rückkehr der Serben gegeben.
Solche Kritik an der Kosovo-Politik der internationalen Staatengemeinschaft ist
nach den jüngsten Unruhen lauter geworden. Die renommierte International Crisis
Group glaubt, dass der Westen mit der Vorgabe, zunächst eine rechtsstaatliche
Ordnung für das Kosovo zu schaffen, bevor die heikle Frage des künftigen Status
geklärt wird, schlicht gescheitert ist. Recht und Ordnung würden erst Einzug
halten, wenn der endgültige Status der offiziell nach wie vor zu Belgrad
gehörenden Provinz festgelegt werde. Einige westliche Vertreter wie die frühere
US-Außenministerin Madeleine Albright oder der ehemalige amerikanische Balkan-Unterhändler
Richard Holbrooke setzen sich bereits entschieden für ein unabhängiges Kosovo
ein.
Carl Bildt, der ehemalige Bosnien-Beauftragte der EU, warnt indes vor einem
solchen Schritt. "Heute der Gewalt nachzugeben", sagt Bildt, "gibt den
ethnischen Säuberern von morgen Auftrieb."
Und die sind bereits am Werk: Über dem Portal der orthodoxen Gemeindekirche im
Zentrum von Prizren steht noch immer in riesigen roten Lettern eine deutliche
Botschaft: "Tod den Serben".
"Es war wie in einem Indianerfilm", erinnert sich der serbische Mönch Benedikt,
der in der deutschen Kaserne im serbischen Dorf Sredska Unterschlupf gefunden
hat. Unter einer weißen Fahne habe eine Delegation albanischer Angreifer den
Kfor-Schutzposten vor dem Kloster zum "Heiligen Erzengel" versichert, man wolle
sie nicht töten, nur das Kloster solle in Flammen aufgehen. Die deutschen
Soldaten hätten daraufhin die sechs Mönche und zwei Besucher in ihr gepanzertes
Fahrzeug verfrachtet und in Sicherheit gebracht.
Um nach Sredska zu gelangen, müssen derzeit alle Fahrzeuge Slalom fahren, an
Felsbrocken, Betonklötzen, Stacheldraht und Sandsäcken vorbei. Hinter den
Barrikaden filzen Kfor-Posten jedes Auto peinlich genau. Wie Sredska wird in
diesen Tagen jede serbische Siedlung von den Friedenstruppen abgeschirmt. Panzer
verstellen die Wege, schwer bewaffnete Soldaten demonstrieren Stärke. Dass sie
sich vom Hassausbruch der Albaner überrumpeln ließen, hat das Vertrauen der
serbischen Minderheit in die Truppen nachhaltig erschüttert.
"Wir haben jetzt unsere eigenen Spähtrupps", sagt Branko Gligorijevic, der
Bürgermeister von Novake, einem Dorf mit einst 450 serbischen Einwohnern. Nach
dem Krieg wurden hier mit deutscher Hilfe 61 Häuser für die wenigen serbischen
Rückkehrerfamilien wieder aufgebaut. Doch Gligorijevic kann immer noch nicht in
Sicherheit leben: "Was ist das für ein Schutz, wenn mir der zuständige deutsche
Kommandant sagt: ,Packen Sie auf jeden Fall Ihre Koffer für die Flucht.'"
Hilfe erwarten viele Serben ausschließlich von Belgrad. Seine Landsleute hofften,
sagt Bürgermeister Gligorijevic, dass die neue Führung in Belgrad nicht nur Mehl
als humanitäre Hilfe an die serbischen Enklaven schicke, sondern endlich die
Armee in Marsch setze, um die Provinz zurückzuerobern. Sonst, droht der Serbe,
werde man aus der Region "einen neuen Irak machen".
Um die angespannte Lage zwischen den verfeindeten Volksgruppen besser
kontrollieren zu können, wurde das Kfor-Kontingent um 2000 auf 20 500 Mann
aufgestockt, die beim nächsten Mal rigoros durchgreifen wollen. Doch die
Militärs wissen auch, dass jeder tote Albaner die kritische Lage weiter
verschärfen wird. Schon warnt der österreichische Kfor-Kommandant Anton Willmann
vor "einem neuen Guerillakrieg".
Angesichts des unüberwindlichen Hasses macht sich im Westen Ernüchterung breit.
Der Berliner Verteidigungsminister Peter Struck beklagte bei einem Truppenbesuch
in Prizren vergangene Woche seine "bitteren Gefühle". Ganz leger, in Jeans und
Blouson, verkündete er, dass sich die Deutschen auf ein langes Engagement ihrer
Soldaten im Kosovo vorbereiten müssten. Struck: "Wir bleiben."
Der Westen habe bislang "zu stark auf das Militär gesetzt", kritisiert dagegen
der frühere deutsche Kfor-Kommandant Klaus Reinhardt. Das internationale
Kosovo-Engagement sei konzeptlos, nun stehe die Staatengemeinschaft "vor den
Scherben" ihrer bisherigen Politik. Neben der Sicherheitslage, so der General a.
D., müssten endlich auch die Lebensverhältnisse der Einwohner spürbar verbessert
werden.
Seitdem die Unmik im Juni 1999 das Kommando übernahm, hat sich der Alltag der
Kosovaren trotz Aufbauhilfen von mehr als zwei Milliarden Euro nicht verbessert.
Schätzungsweise 70 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, ausländische Firmen
halten sich mit Investitionen zurück.
Inzwischen mehren sich die Rufe nach einer internationalen Konferenz, auf der
die Zukunft des Kosovo, ähnlich wie im Falle Afghanistans, am runden Tisch
verhandelt werden soll. Doch die Uno hat Angst, mit einer endgültigen Klärung
der Kosovo-Frage neue Konflikte in der Region zu provozieren.
Der finnische Unmik-Chef Harri Holkeri fürchtet, dass im Falle einer
Unabhängigkeit etwa die südserbischen Gemeinden um Bujanovac mit mehrheitlich
albanischer Bevölkerung ebenso den Anschluss an das Kosovo fordern würden wie
die unzufriedene albanische Bevölkerung im Nachbarland Mazedonien. Und auch
Forderungen der bosnischen Serben, als Kompensation für das Kosovo die
Angliederung an Belgrad zu erwirken, wären dann nicht mehr auszuschließen.
Deshalb will die internationale Staatengemeinschaft auch weiterhin an dem
Konzept festhalten, zunächst die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der
Volksgruppen zu schaffen. Eine Lösung der Statusfrage vor Ende 2005 lehnt sie
rigoros ab. Laut Unmik-Chef Holkeri werden jedoch bereits informelle Gespräche
über Ergänzungen des Uno-Auftrags geführt.
Fraglich ist indes, ob die immer drängender nach Unabhängigkeit strebenden
Albaner so lange stillhalten werden. "Jeden Tag ein toter Kfor-Soldat würde
ausreichen", um die ausländischen Truppen aus dem Land zu vertreiben, glaubt der
Albaner Ramush. "Sie sind auch nur Menschen und wollen leben." RENATE FLOTTAU,
MARION KRASKE
Photo: DDP
Zerstörte serbische Kirche in Prizren mit der Parole "Tod den Serben" (in
fehlerhaftem Italienisch)
Photo: AP
Albaner-Proteste bei der Serben-Enklave Caglavica (am 18. März)
Source: DER SPIEGEL 16/2004 - 10. April 2004
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,294975,00.html